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Stressverarbeitung nach belastenden Einsätzen.

 

Was ist es, das alle Bergretter*innen miteinander verbindet? Das ist die Liebe zu den Bergen. Es gibt viele unterschiedliche Motivationen, warum jemand in der Bergrettung aktiv wird, aber die Beziehung zu den Bergen spielt bei allen eine Rolle. Die Leidenschaft für die Berge verbindet uns dabei gleichzeitig auch mit allen unseren Patient*innen. Sie sind ebenfalls im alpinen Gelände unterwegs, und damit gibt es automatisch eine emotionale Verbindung zu ihnen, die enger ist als in vielen anderen Einsatzorganisationen. Wer in der Bergrettung aktiv ist, der sieht zwangsläufig Dinge, die unschön sind. Unfälle, bei denen man sich selbst fragt: Könnte mir das auch passieren? Oder Ereignisse, die einem besonders nahegehen, zum Beispiel ein Lawinentod von Jugendlichen. Wir starten mit Motivation in jeden Einsatz, weil wir Menschen helfen wollen, aber manchmal ist das eben nicht mehr möglich. Wer schon einmal in das Gesicht eines jungen Menschen geblickt hat, der in einer Lawine erstickt ist, der wird diesen Anblick vielleicht nicht mehr so leicht vergessen. Dabei ist der Bergrettungseinsatz in diesem Fall noch gar nicht zu Ende. Es gilt, Verunfallte zu bergen und dann noch ins Tal zu transportieren. Manchmal sind Angehörige in der Nähe, die die Situation noch gar nicht erfassen können.

 

Belastung ist vielschichtig

Aber nicht nur der Tod von Patient*innen kann belastend sein. Nach manchen Einsätzen stellen wir uns auch selbst in Frage: Hätten wir jemandem helfen können, wenn eine einsatztaktische Entscheidung anders getroffen worden wäre? Wenn wir eine Suche beispielsweise an einem anderen Punkt gestartet hätten oder wenn wir andere Kräfte eingesetzt hätten? Oder waren wir vielleicht einmal nicht in der Lage, jemandem die Schmerzen zu nehmen, die er oder sie gerade erlitt, weil wir in der Situation keine ärztliche Versorgung sicherstellen konnten? Wenn Menschen abgängig sind: Ist es richtig, eine Suche zu unterbrechen? Soll man weitersuchen? Denken wir dann in der Nacht darüber nach, wie jemand vielleicht am Berg geblieben ist? Belastung kann viele unterschiedliche Formen annehmen. Manche Menschen schlucken in so einer Situation gerne einmal hinunter und machen das mit sich selbst aus. Andere wiederum müssen ihre Emotion loswerden. Die Stimmung in einer Bergrettungsmannschaft kann sich ganz schnell ändern, wenn eine Situation belastend ist: Es kann sehr ruhig werden oder auch sehr laut. Vom einen hört man plötzlich unpassende Witze, mit denen er sich von der Situation zu distanzieren versucht. Der andere regt sich über die Kamerad*Innen auf, und der Dritte kramt lieber still in seinem Rucksack.

Wie mit Belastung umgehen?

Belastungsreaktionen sind bei allen Menschen ganz normal, und natürlich auch bei Bergretter*innen. Schon das Wissen darüber, welche Reaktionen häufig nach emotionalen Belastungen auftreten, kann dazu beitragen, den Umgang damit zu erleichtern. Wer sich selbst gut kennt, aber auch einordnen kann, wie andere Menschen sich in stressigen Situationen verhalten, der wird sich im Einsatzgeschehen besser zurechtfinden und vielleicht auch im Nachhinein einen besseren Umgang damit finden. Dass uns Bergretter*innen Einsätze belasten, ist nämlich ganz selbstverständlich und gar nicht zu verhindern. Die entscheidende Frage ist, wie wir dann damit umgehen. „Wir haben uns nach dem Einsatz ein Bier hineingestellt“, hört man von manchen altgedienten Bergrettern, wenn man mit ihnen darüber redet, wie sie früher mit Einsätzen umgegangen sind, in denen Dinge passiert sind, die man lieber nicht sehen will. Ein gemeinsames Bier nach einem Einsatz ist gar kein schlechter Umgang mit der Belastung. Auch zwei Bier nicht, und nicht einmal drei, wenn sie dazu dienen, über das Erlebte sprechen zu können. Problematisch wird das Bier insbesondere dann, wenn es nicht mehr in der Gemeinschaft und zur Kommunikation stattfindet, sondern einzeln oder gar einsam zum Vergessen und Betäuben, oder wenn daraus sogar eine Gewohnheit wird. Noch schlimmer wäre es, wenn sich Bergretter*innen nach solchen Erlebnissen aus der Organisation zurückziehen oder es sogar zu Schwierigkeiten in Beruf oder Beziehung kommt. Schlussendlich wollen wir als Bergretter*innen ja mit Freude gemeinsam in den Einsatz gehen und ebenso wieder daraus zurückkommen.

Niemand wird alleingelassen

In der Bergrettung Tirol wollen wir diese Verantwortung als Organisation für alle unsere Mitglieder wahrnehmen. Wir wollen signalisieren, dass niemand mit schwierigen Situationen oder nach unschönen Erlebnissen alleingelassen wird. Wir möchten Unterstützung bieten oder Unterstützung vermitteln. Dafür starten wir in der Bergrettung Tirol das Projekt „Stressverarbeitung nach belastenden Einsätzen“. „Stressverarbeitung nach belastenden Einsätzen“ (SvE), das ist ein Begriff für ein Unterstützungsnetzwerk, das wir innerhalb unserer Organisation nun aufbauen wollen. Auch bisher gab es natürlich schon viele unterstützende Bergretter*innen, daraus soll nun aber auch ein dauerhaft organisiertes Projekt werden. In manchen anderen Zusammenhängen nennt sich diese Tätigkeit auch psychosoziale Notfallversorgung, psychosoziale Unterstützung für Einsatzkräfte, Notfallseelsorge oder auch einfach Krisenintervention. Das nun in der Bergrettung Tirol startende Projekt ist ein sogenanntes „Peer“-Projekt, das bedeutet, dass Bergretter* innen ausgebildet werden, als „Peers“ – das bedeutet als Gleiche unter Gleichen – in und nach schwierigen Situationen zur Verfügung zu stehen, und zwar Bergretter*innen für Bergretter*innen. Für Angehörige wird in bewährter Weise weiterhin das KIT des Roten Kreuzes zur Verfügung stehen. Für die Peers stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, vom Defusing für Gruppen bis hin zu Einzelgesprächen. SvE in der Bergrettung Tirol wird kostenlos und anonym in Anspruch genommen werden können und soll als erste Unterstützungsebene abseits der eigenen Ortsstelle sofort zur Verfügung stehen, wenn sie irgendwo gebraucht wird.

Peer-System in der Bergrettung Tirol

Im ersten Halbjahr 2022 starteten deshalb Tiroler Bergretter*innen unter Anleitung von Univ.-Prof. Barbara Juen, die für ihre Kompetenz als Notfallpsychologin weit über die Grenzen Tirols hinaus bekannt ist, mit der Ausbildung für ein SvE-Peer-System. Dafür holten wir uns auch Unterstützung von Bergrettungsorganisationen, die diesen Schritt bereits gegangen sind, etwa bei Georg Mathes von der Bergrettung Oberösterreich und in Zusammenarbeit mit dem Peer-System der Bergrettung Südtirol im AVS. Gleichzeitig soll ein Hintergrunddienst von psychosozialen Fachkräften in der Bergrettung Tirol aufgebaut werden. Unser Ziel ist es, ausreichend viele Bergretter*innen aus allen Tiroler Bezirken zu Peers in Stressverarbeitung nach belastenden Einsätzen auszubilden, damit Bier nicht die einzige Möglichkeit zur Verarbeitung ist.

TEXT Gebi Mair  FOTO Bergrettung Tirol (Stefan Voitl – Photography)